„Wirte im Lockdown“ gibt Gastronom:innen ein Gesicht in der Krise

„Wirte im Lockdown“ gibt Gastronom:innen ein Gesicht in der Krise

Zwei Lockdowns, neun Städte, 141 Betriebe – Helena Heilig fährt seit März 2020 durch die Republik und porträtiert Gastronom:innen in ihren leeren Gasträumen. „Wirte im Lockdown“ zeigt den Stillstand einer gesamten Branche.

Die Initiatorinnen Susanne Fiedler (l.) und Helena Heilig (r.)

Mit ernsten Mienen blicken von der Corona-Krise gebeutelte Gastronom:innen in die Kamera. Sie posieren in ihren leeren Gasträumen. Die Farbgebung: schwarz-weiß. Daraus entstehen Porträts, die an Fotografien aus den 1920er Jahren erinnern, aber aktueller nicht sein könnten.

„Wirte im Lockdown“ ist ein Kunstprojekt, das den komatösen Schlaf einer gesamten Branche dokumentiert. Die Geschichten der porträtieren Wirt:innen werden in dazugehörigen Texten erzählt. Hinter der Kamera steht Fotografin Helena Heilig. Die Texte produzieren die Journalist:innen Susanne Fiedler, Katrin Fischer, Silke Stuck und Sebastian Bordthäuser. Mit ihrem Kunstprojekt geben die Initiatorinnen Heilig und Fiedler den Gastronom:innen in der Krise ein Gesicht. Sie erschaffen ein „zeitgeschichtliches Dokument“ – so bezeichnen sie es. Ein Kunstprojekt, das sich so lange im Prozess befindet, wie der Lockdown andauert. 

„Macht doch Schwarz-Weiß-Fotos zusammen mit ‘ner Geschichte“

Badia Ouahi in Badias Schirn Café, Frankfurt, Foto: Helena Heilig

Vor „Wirte im Lockdown“ hatten sich Heilig und Fiedler schon im Jahr 2018 zusammengetan. In ihrem ersten gemeinsamen Projekt hatten sie Menschen im Arabella-Hochhaus porträtiert und das fertige Projekt vor Ort ausgestellt. „Das war Münchens erstes Hochhaus nach amerikanischem Vorbild, ein Brutalismus-Bau, der 1969 eröffnet wurde“, erklärt Fiedler. Besonders spannend fanden die beiden die Durchmischung der im Haus lebenden und arbeitenden Personen und entwickelten daraus das Kunstprojekt. Heilig fotografierte und Fiedler schrieb die Geschichten der Menschen auf. Ein Protagonist dieser Ausstellung war der Concierge des Hauses, Khalid Stückler.

Diese Vorgeschichte ebnete den Weg für „Wirte im Lockdown“. Denn Stückler habe den Anstoß für „Wirte im Lockdown“ gegeben, erklärt Heilig. Der Concierge sei auf sie zugegangen und habe vorgeschlagen: „Macht doch Schwarz-Weiß-Fotos zusammen mit ‘ner Geschichte und fangt so die Lage der Gastronomie ein“. Fiedler und Heilig fackelten nicht lange: „Wir haben sofort Ja gesagt, das mussten wir machen“, sagt Fiedler. Stückler habe anschließend bei der Vermittlung geholfen, indem er die Projektbeschreibung an die Vereinigung der Hotelportiers Deutschlands – Die Goldenen Schlüssel Deutschland e. V. – weiterleitete. „Daraufhin meldeten sich die ersten Gastronom:innen“, sagt Heilig. „Im Laufe der Zeit wurde das dann hier in München zum Selbstläufer“, ergänzt Fiedler.

Felix Engels in der Suderman Bar, Köln, Foto: Helena Heilig

„Der anonyme Begriff Gastronom bekommt durch das Projekt ein Gesicht“

Sie trafen sich also mit den ersten Gastronom:innen in deren verwaisten Gaststuben: „Die Leere der Räume schafft eine besondere Atmosphäre, die auch die psychische Leere der Gastronom:innen, die ihren Job meist als Lebenseinstellung sehen, einfängt. Für die Shootings verändern wir nichts, weil wir den Stillstand dokumentieren möchten“, erklären die Macherinnen. In diesem Setting spüren sie die Verzweiflung, die Ungewissheit und die Überraschung der Gastronom:innen über die urplötzliche Vollbremsung einer gesamten Branche: „Das sind ganz besondere Begegnungen mit Gastronom:innen, die sich unter normalen Umständen immer in ihrer Gastgeber:innen-Rolle präsentieren“, findet Fiedler. „Der anonyme Begriff Gastronom bekommt durch das Projekt ein Gesicht“ – so habe es ein porträtierter Wirt mal auf den Punkt gebracht.

Jakob, Theresa und Xaver Portenlänger im Xaver's, München, Foto: Helena Heilig

Eingefangen haben die beiden Frauen viele verschiedene Eindrücke: zwei Wirte, die ihre Tische trotzdem eindecken, obwohl das Geschirr verstauben wird und ein Gastronom, der seine volle Arbeitsmontur bei stillgelegtem Betrieb weiter trägt, weil er es anders nicht aushalte. Ein anderer Betreiber berichtet von Stammkund:innen, die im ersten Lockdown zwei Flaschen Wein kauften und 500 Euro da ließen.

Heilig und Fiedler hören aber auch traurige Geschichten wie die einer Brauerei, die 36.000 Liter Bier wegschütten musste, weil das traditionelle Münchner Starkbierfest ausgefallen ist und das Bier sonst gekippt wäre. Das Projekt zeigt auch die gesellschaftliche Funktion der Gastronomie: „Besonders die kleinen Kneipen fungieren oft als soziale Auffangstationen für Leute, die abends nicht wissen, wo sie hingehen sollen“, stellt Heilig fest. Ein Reutlinger Kneipenbetreiber habe zum Beispiel im zweiten Lockdown angefangen, für seine Stammkund:innen einkaufen zu gehen und für sie zu kochen.

Anne Behm im Klippkroog, Hamburg, Foto: Helena Heilig

„Niemand wusste, dass ein zweiter Lockdown kommen würde“

Dass sich „Wirte im Lockdown“ zu einem bundesweiten Projekt ausweiten würde, sei zu Beginn gar nicht geplant gewesen, sagt Fotografin Heilig. Im ersten Lockdown hatten sie insgesamt 26 Münchner Gastronom:innen porträtiert und planten dann ihre Werke im November 2020 auszustellen. Der Ort stand schon fest: Sie wählten ein leeres Wirtshaus aus, das seine Türen schon im ersten Lockdown endgültig schließen musste. Das Lokal „Hofer – der Stadtwirt“, in Münchens ältestem Stadthaus, sollte die Ausstellung beherbergen. „Zu dem Zeitpunkt wusste aber noch niemand, dass wieder ein harter Lockdown kommen würde“, sagt die Journalistin Fiedler. Aus gegebenem Anlass fand die für November 2020 geplante Ausstellung nicht statt.

Michael und Wolfgang Sperger im Hofbräuhaus, München, Foto: Helena Heilig

Heilig zieht seither weiter durch diverse deutsche Städte und setzt die Dokumentation eines Stillstands fort. Fiedler bleibt aufgrund ihres Jobs beim Bayerischen Rundfunk in München. Darum führt Heilig die Interviews außerhalb Münchens entweder selbst oder lässt sich von einem/einer anderen Journalist:in begleiten. Unterstützung erfährt das Projekt auch von einem achtköpfigen Team, das im Hintergrund arbeitet. Nach München hat Heilig Station gehalten in Berlin, Hamburg, Reutlingen, Stuttgart, Baden-Baden, Heidelberg, Frankfurt am Main und zuletzt in Köln. Im Februar fotografiert Heilig in Dresden und Leipzig. Ist die Gastronomie im März weiterhin geschlossen, besucht sie auch Gastronom:innen in Hannover und Bremen. Das Projekt hat Fahrt aufgenommen: Innerhalb von nur zwei Monaten haben sich um den Instagram-Auftritt knapp 2.300 Follower geschart.

Kiren Alt im Champor, München, Foto: Helena Heilig

„Wir haben einen Schatz im Keller“

Was müssen Gastronom:innen tun, um am Projekt teilzunehmen? „Wir lehnen prinzipiell niemanden ab, manchmal passt es aber einfach terminlich nicht“, erklärt Heilig. Eine Vorauswahl werde also nicht getroffen. „Wir haben eine schöne Mischung: Vom kleinen Eckitaliener bis hin zum Edelrestaurant ist alles vertreten“, schwärmt Fiedler. Das Projekt finanziert sich jedoch nicht von selbst. Deshalb sind die Macherinnen derzeit auf der dringenden Suche nach Sponsor:innen. Wer das Projekt unterstützen möchte, kann dies über www.buymeacoffee.com/HelenaHeilig tun. Über die Seite www.patreon.com/helenaheilig haben Supporter:innen die Möglichkeit, entweder einmalig oder dauerhaft zu spenden und durch eine Membership am Projekt teilzuhaben.

Porträtiert hat Heilig bisher 141 Betriebe in neun deutschen Städten. Das Projekt ende erst, wenn die Gastronomie wieder öffnet. Am liebsten würden die Initiatorinnen des Kunstprojekts im März, also genau ein Jahr nach dem ersten Lockdown, ausstellen. „Wir haben einen Schatz im Keller, den wir den Leuten zeigen möchten“, sagt Heilig mit einem Augenzwinkern.

 

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